Slow Marketing – Was das New Kid on the Block wirklich kann
In letzter Zeit verschafft sich ein „neuer“ Marketingansatz im deutschsprachigen Raum Gehör. Dieser wurde allerdings schon vor einigen Jahren von englischsprachigen Marketern als zukunftsweisende Form des Marketings beschrieben. Slow Marketing ist „der Neue in der Branche“, denn es bricht mit den gängigen Werbenormen, indem es vor allem auf das Konzept der Entschleunigung setzt. Dadurch soll es in der Wahrnehmung der Rezipienten frischer wirken und durch sein Anderssein eher in den Blick der Zielgruppen geraten. Doch was steckt wirklich hinter diesem Begriff? Ist es wieder einmal ein neuer Trend oder kann es sich tatsächlich behaupten und ist diesmal wirklich der Weisheit letzter Schluss?
Gegen den Cult of Speed
Seine Anfänge nahm die Slow-Movement-Bewegung, zu der ich Slow Marketing zähle, Mitte der 1980er Jahre in Italien. Uns digitalisierte WerberInnen und Kommunikationsverantwortliche lässt der Stein des Anstoßes vielleicht etwas schmunzeln, aber die Wellen, die diese Bewegung schlug und schlägt, sind weit zu spüren:
Als auf der barocken Piazza Navona in Rom im Jahr 1986 eine McDonald’s-Filiale eröffnet werden sollte, formierte sich unter den italienischen Gourmets ein Protest, der von Carlo Petrini angeführt wurde. Auf der Spanischen Treppe organisierten die Köche ein großes Protestessen.
Slow Food war geboren und sollte fortan als ein Gegenkonzept des Fast-Food-Kults dienen. Zwar konnte auch Petrini die Ausbreitung von Fast Food in Italien nicht verhindern, aber dafür einen regen Diskurs anregen, der Verbraucher und Handel verändert hat – und zwar weit über die Grenzen Roms hinaus. Die Stichworte Nachhaltigkeit, gesunde Ernährung, Stärkung regionaler Produkte und Bio-Lebensmittel haben sich im Bewusstsein der KonsumentInnen verankert.
Fast zwanzig Jahre später, nämlich 2004, legte der kanadische Journalist Carl Honoré mit „In Praise of Slow“ einen international beachteten Bestseller vor, der das Manifest der Slow-Movement-Bewegung werden sollte. Im deutschsprachigen Raum entwickelte sich analog hierzu der Begriff der Entschleunigung. In einer Zeit, in der die Nachrichten vom Vortag kaum noch aufgearbeitet werden können, umschreibt der Begriff die Sehnsucht nach einer Verlangsamung des eigenen Alltags. Statt auf Quantität wird auf Qualität Wert gelegt.
Kommunikation auf Speed
Gehen wir weg von der Gastronomie, hin zur Kommunikationsbranche. Hier werden wir uns sicherlich alle darauf einigen können, dass wir in einer Zeit der Fast Media leben und arbeiten. Besonders der Erfolg von sozialen Netzwerken hat zu einer weiteren Beschleunigung der alltäglichen beruflichen und privaten Kommunikation geführt. Wer am Puls der Zeit bleiben möchte, hastet von Ereignis zu Ereignis, springt von einem Posting zum frisch in den RSS-Reader gepushten Blogbeitrag und dann schnell wieder zur nächsten App, die mit einem unüberhörbaren Signalton eine neue Nachricht ankündigt.
Die Algorithmen – diese Verallgemeinerung ist hier bewusst gesetzt, Kritik ist willkommen und erlaubt – bestrafen nicht selten Publisher, die eine kleine Verschnaufpause nehmen (wollen), und stufen ihre Relevanz prompt herab. Ganz im Sinne von: „Wer wichtig ist, hat immer was zu sagen“. Während wir schlafen, sammeln sich längst schon die neuen Nachrichten auf dem Smartphone. Die Zeit fließt immer schneller, und man kann kaum noch Schritt halten. Über den Tag verteilt erreichen uns aus den unterschiedlichsten Kanälen und Netzwerken pausenlos Werbe- und Unternehmensbotschaften. Hand hoch, wer sich hier nicht zumindest zum Teil wiederfindet!
Das Ergebnis dieser Entwicklung ist einfach, logisch und unvorteilhaft zugleich: Die Zielgruppe macht dicht (ihre Augen, Ohren und Browser) und die Publisher bzw. Werber erhöhen Druck und Tempo, in der Hoffnung, dass doch noch etwas durchkommt. Eines der größten Probleme, neben Ad-Blockern, steigender Werbebotschaftsresistenz und geringer Effizienz, ist die Tatsache, dass keine Zeit mehr zur Reflexion bleibt: Die innere Rückschau ist jedoch wichtig, um gesellschaftliche, berufliche oder persönliche Geschehnisse bewerten zu können. Im hektischen Berufsalltag wird häufig nur noch reagiert, noch bevor man überhaupt reflektieren konnte. Honoré beschreibt in seinem Buch, wie der Verstand mit der Zeit mürbe wird, und argumentiert gegen den Cult of Speed, der keine Pausen mehr zulässt und den Menschen innerlich ausbrennt.
Klingt nach digitalem Burnout auf allen Seiten, oder? Kein Wunder, dass sich Menschen zunehmend nach einer Auszeit sehnen.
Slow Marketing drückt den Pause-Knopf
Der übliche 30-Sekunden-Werbespot, der im Fernsehen oder im Internet gezeigt wird, hastet von Werbebotschaft zu Werbebotschaft. Conversion-Optimierung und -Maximierung müssen in der Kürze der Zeit zum Erfolg führen – nämlich zum Kauf. Doch viele NutzerInnen haben sich mittlerweile an diese Werbetechniken gewöhnt und schalten instinktiv ab, wenn Werbung gezeigt wird. Slow Marketing setzt genau an dieser Stelle an. Es bricht mit den gängigen Marketingformen, die sich im gegenseitigen Wettstreit um die Aufmerksamkeit der KundInnen übertrumpfen wollen.
Als ein gern genanntes Beispiel des Slow Marketing wird der britische Farbhersteller Ronseal genannt. Buchstäblich drei Minuten lang konnte man in dem Werbespot zusehen, wie Farbe auf einem Lattenzaun trocknet. Der ungewöhnliche Werbespot sollte binnen weniger Tage zu einem viralen Hit werden.
Der englische Supermarkt Waitrose warb auf Youtube hingegen mit einem Livestream, der einen der Lieferanten-Bauernhöfe zeigte. Stundenlang konnte man das Auf- und Abwogen des Rapsfeldes bewundern.
Der Spirituosenhersteller Diageo verfolgte einen ähnlichen Ansatz und veröffentlichte ein 45-minütiges Video, in dem der Komiker Nick Offermann ein Glas Lagavulin trinkt und ansonsten schweigend neben dem Kaminfeuer sitzt.
Diese Beispiele werden derzeit als Slow-Marketing-Vorzeigemodelle genannt und sollen zeigen, dass Marketing auch anders geht. Ich darf mir erlauben, hier meine eigene, persönliche und absolut subjektive Meinung dazu bekannt zu geben: Ich finde das alles absoluten Schmafu! ;) (z. Dt.: Blödsinn)
Was Slow Marketing wirklich ausmacht
Schon 2009 hatte Pete Blackshaw in der Advertising Age die Vorzüge des Slow Marketings angepriesen und erarbeitete folgende Prinzipien:
- Kundenzentriertheit
- Zuhören statt Niederreden
- Nachhaltige Kommunikation
- Markenglaubwürdigkeit
- Zentrale Kommunikationsdrehscheibe
- Eklektizismus
(Für eine detaillierte Beschreibung der einzelnen Prinzipien, bitte einfach den obigen Link ansteuern.)
Ja natürlich, wir müssen weg vom TV-Shop-Kauf-mich/Bald-vergriffen-Marktschreierei-Gehabe. Dieses entwürdigt, sehr simpel gesprochen, unsere Zielgruppe und verkauft sie fast schon für dumm. Denn, seien wir ehrlich, künstliche Verknappung und noch größere Aktionsschilder bringen schon lange nicht mehr die gewünschten Erfolge. Die oben vorgestellten „Slow-Marketing-Beispiele“ sind aber für mich mindestens genauso miserabel, denn sie verschwenden eine der wertvollsten Ressourcen unserer potenziellen Kunden: Zeit. Darüber hinaus bieten sie absolut gar keinen Nutzen! Wäre man wenigstens via Messenger mit Nick Offerman verbunden, könnte man ihn zumindest fragen, wie der Whiskey schmeckt, aber „einfach so“ mit nichts dahinter? Diese Logik bleibt mir verborgen.
Worum es meiner Meinung nach im Slow Marketing wirklich geht (bzw. gehen sollte) ist ein bewusstes und überlegtes Vorgehen. Es geht um
- Fokussierung auf Strategie und Konzeption
- Beständige Relevanz von Inhalten
- Zuhören und Beziehungsaufbau
- Das Setzen zielführender Schritte
Slow Marketing hat demzufolge mehr mit Evergreen-Content-Marketing, gekonntem Targeting und zielgerichteter Kommunikation als mit einschläfernden Youtube-Videos zu tun. Egal, ob und wie erfolgreich sie viral gehen. Hier geht es tatsächlich um eine Rückbesinnung auf die Basics, die wir in der digitalen Rush Hour so oft überspringen.
Mindfulness and taking the time to think a campaign through from the user’s point of view is an art, and increasingly the race goes not to the swiftest but to the most aware.
(Übersetzt: Achtsamkeit und sich die Zeit dafür zu nehmen, eine Kampagne aus Sicht des Users durchzudenken, ist eine Kunst, und zunehmend machen nicht die Schnellsten das Rennen, sondern diejenigen, die sich dessen am meisten bewusst sind.)
In ihrem wirklich gut geschriebenen Artikel zum Thema Slow Marketing zeigt Nicola Kemp, wie weitläufig die Slow-Marketing-Bewegung ist und beschreibt sehr anschaulich, dass nachhaltiges Marketing nur eine von vielen Facetten aktueller Veränderungen innerhalb von Unternehmen ist. Digitalisierung, agiles Management, Slow Marketing und nachhaltige Zielgruppenkommunikation reichen sich im Unternehmen von morgen die Hände, ziehen an einem Strang und verfolgen dieselben Ziele. So, und nicht anders, wird Businesserfolg in Zukunft gestaltet. Wie man das Marketing dahinter letztlich benennt, ist absolut egal.
Artikelbild: Martin Mummel/GRVTY
Danke Ivana, für diese wohltuende Gegenposition zum „Höher, schneller, weiter“ des digitalen Marketings.
In eine ähnliche Richtung denkt auch Ann Handley von marketingprofs:
„Yet, ironically, the companies that will have the biggest marketing wins this fall won’t get there by going faster. Instead, they will get there by… wait for it… slowing down.“
Ein „Überlegter, gezielter, achtsamer“ kann vielleicht auch dazu beitragen, die Informationsmärkte vor völliger Überhitzung und Kollaps zu bewahren.
Die Chancen stehen nicht schlecht.
Denn der Mensch ist bei weitem nicht so schnell, wie er meint.
Servus Sascha,
danke auch dir für deinen Zuspruch. Ich verfolge diese Entwicklungen sehr gespannt, wenn auch kritisch, wie man sieht. Nichts alles, wo Slow Marketing drauf steht, ist es auch tatsächlich drin.
Ich würde mich freuen, wenn ein echter Ruck durch die Branche ginge, wenn alle mal wieder auf den Boden kommen würden. Damit würden sich viele Herausforderungen von selbst lösen… Mal schauen, vielleicht wird’s ja noch was. :D
DIe Ronseal Werbung musste ich einfach komplett schauen. Irgendwie wird man dieses „Da kommt bestimmt noch was“-Gefühl nicht los :D
Schöner Beitrag, Gruß,
Johannes
Servus!
Ahahaha, ja man gibt die Hoffnung nicht ganz auf, das stimmt… ;)
Schön, dass dir der Beitrag gefallen hat.
LG
Ivana
Ob ich mir stundenlang ein Rapsfeld als Werbung ansehen möchte, glaube ich nicht, aber trotzdem finde ich die Ideen erstmal innovativ. Sie heben sich halt stark von dem heutigen Kampf um Sichtbarkeit auf allen Kanälen ab und haben dadurch ja im Grunde so viel Aufmerksamkeit erhalten und ihr Ziel als Werbekampagne erreicht. Wirklich sinnvoll finde ich die Kampagnen aber auch nicht, wenn ich mal den zeitlichen Aspekt betrachte. Trotzdem bleibt es spannend, was für Marketingkonzepte in Zukunft Erfolg haben werden, denn es wird bei der Informationsflut im Web nicht einfacher, Kunden durch Newsletter oder auch in den sozialen Medien zu erreichen.
Hallo Lukas,
ja, da gebe ich dir absolut Recht, es hebt sich ab – aber nachhaltig ist es nicht. Gerade wegen der fehlenden Zeit und dem nicht vorhandenen Nutzen.
Spannen bleibt das Marketing der Zukunft allemal. Wir bei Zielbar bleiben dran! :D
Liebe Grüße
Ivana
Ich frage mich, in welche Richtung das geht. Im Zeitalter von KI und weit verbreiteter Globalisierung ist es sehr schwierig, als Marketingunternehmen zu agieren, da Kunden viele Dinge selbst erledigen.