„Man braucht Rückenwind und starke Schultern“ – Interview mit Tom Levine zum Aufbau der Content-Agentur innogy.c3
Tom Levine hatte in den vergangenen eineinhalb Jahren einen Job, um den ihn viele Content-Strategen beneiden dürften: Der Executive Director Content bei C3 baute für den Energiedienstleister innogy erst Teile der Konzernkommunikation um und dann die Content- und Kommunikationsagentur innogy.c3 auf – und zwar von der ersten vagen Idee bis zum offiziellen Start mit rund 40 Mitarbeitern im Januar 2018. Die Fachmedien berichteten ausgiebig über dieses ungewöhnliche Konstrukt.
Worauf muss man bei solch einem riesigen Content-Projekt achten? Während andere mit derartigen Erfahrungen eher knausern, berichtet Tom Levine gern über den Aufbau der Gemeinschaftsagentur. Ein ausführliches Werkstattgespräch mit einem, der lieber geduldig zuhört und dann die Hemdsärmel hochkrempelt, als sich in allzu theoretischen Modellen zu verlieren.
Zielbar: Tom, Du hast das Joint Venture innogy.c3 federführend mit aufgebaut. Wusstest Du zum Start des Projekts, wie das Resultat im Januar 2018 aussehen wird?
Tom Levine: Nein, das Joint Venture war nur eine Möglichkeit von vielen, die wir ab Herbst 2016 mit dem Kunden diskutiert haben. Wir haben da nicht den „Aktendeckel 12: Gründung einer Customized Agency“ aus der Schublade gezogen. Die Ausgestaltung war ein sehr intensiver, manchmal auch anstrengender Prozess, bei dem es auch Rückschläge gab. Das zeigt allein die Größe unseres Engagements: Zu Stoßzeiten haben an dem Projekt zeitgleich 25 bis 30 C3-Leute parallel gearbeitet. Wir haben den Aufwand am Anfang sicher auch unterschätzt.
Zielbar: Kannst Du ganz kurz skizzieren, was ihr da eigentlich aufgebaut habt?
Tom Levine: Gern. Wir haben gemeinsam mit innogy eine Agentur gegründet, in der ein Großteil der Disziplinen vereint ist, auf die man im modernen Content-Marketing und in der digitalen Kommunikation insgesamt angewiesen ist. Diese Agentur steht aber nicht als autarke Organisation da. Sie liegt quasi quer „unter“ zwei neuen innogy-Abteilungen in der Konzernkommunikation, in der die zentralen Kompetenzen für Content-Planung, Erstellung, Ausspielung auf der einen und für digitale Plattformen auf der anderen Seite zusammengezogen sind. Erst aus dem Dreiklang kommt die Kraft, die wir dieser Konstruktion zutrauen.
Zielbar: Warum wurde überhaupt eine Gemeinschaftsagentur gegründet? Hätte innogy sich nicht allein fit machen können für digitale Kommunikation, vielleicht mit begleitender C3-Beratung?
Tom Levine: Mit der gemeinsamen Agentur wollen wir zum einen den Schwung des Neuen erhalten; also jeglichen Tendenzen zur Strukturstarre entgegensteuern. Als C3-Tochter bringt innogy.c3 immer aktuelles Wissen ein – ob zu Content Design, Performance Marketing, Analytics, UX. Wir kümmern uns um Fort- und Weiterbildung, pflegen den regen Austausch mit anderen C3-Standorten und geben damit immer neue Impulse. So bleibt die nötige Beweglichkeit erhalten, selbst wenn wir die Nähe zum Unternehmen innogy halten, um eng und vor allem effektiv zusammenzuarbeiten. Das ist das eine. Zum anderen haben wir die Erfahrung, dass wir als innogy.c3 auf dem Arbeitsmarkt Leute anziehen können, die sich vielleicht nicht vorstellen können, gleich direkt bei einem Konzern anzufangen.
Zielbar: Für den Aufbau habt ihr eineinhalb Jahre gebraucht. Ist das nicht recht kurz? Habt ihr alles geschafft, was ihr euch vorgenommen habt?
Tom Levine: Ja, das haben wir im Wesentlichen. Wir hatten aber einen großen Vorteil: Mit der Gründung von innogy durch die RWE gab es ohnehin viele Umstrukturierungen, es fand ein großes Umsortieren statt. Wir konnten also mit ganz grundlegenden Fragen anfangen, ohne Rücksicht auf bestehende Organigramme: Was sind eigentlich die Ziele der digitalen Kommunikation? Wie erreicht man diese Ziele? Was braucht man für Kompetenzen, Kapazitäten, Budgets? Was können wir intern erledigen, was sollte extern passieren?
Zielbar: Ihr habt keine klassische Content-Strategie gemacht …?
Tom Levine: Doch, doch, keine Sorge. Meine Kolleginnen und Kollegen haben sämtliche Register der Content-Strategie gezogen: Zielgruppenanalysen, Persona-Building, Touchpoint-Maps, Customer Journeys, Tonalität usw. Bevor wir in die Content-Planung eingestiegen sind, haben wir dann allerdings innegehalten und uns um die Strukturen gekümmert, die es braucht, um Content überhaupt zu konzipieren, zu produzieren, zu verbreiten und in der Wirkung zu messen.
Diese Strukturen haben wir darauf ausgerichtet, dass wir mit Content sowohl die Reputation als auch die Customer Experience der Marke verbessern können. Und ganz schnell festgestellt, dass es allein mit Content-Exzellenz nicht geht, dass wir auch Digitale Exzellenz brauchen.
Zielbar: Wie reagierten denn die Mitarbeiter innogys auf eure ehrgeizigen Pläne?
Tom Levine: Sehr unterschiedlich, um es diplomatisch auszudrücken. Die einen haben erkannt, dass das überfällig ist. Sie haben gedrängelt und wollten schnell Ergebnisse sehen. Andere waren weniger begeistert, manche aus nachvollziehbaren Gründen skeptisch: Wenn einer zum Beispiel vertriebliche Ziele erreichen muss, hat er natürlich Bedenken, wenn er die Verantwortung an jemandem abgeben soll, der bekanntermaßen ein guter Kommunikator ist, aber noch keinen einzigen Verkauf in einem Online-Shop auf dem Kerbholz hat. Weitere Sorgen waren Kontrollverlust, Angst vor Fehlern und einen damit einhergehenden Reputationsverlust.
Zielbar: Was habt ihr gegen diese Vorbehalte unternommen?
Tom Levine: Wir haben mit sehr vielen internen Stakeholdern intensiv diskutiert, das waren gefühlt hunderte Gespräche. Wir haben sehr genau ausgehandelt, wer was macht und wer für was verantwortlich ist. In unzähligen Meetings haben wir uns darüber hinaus viele Prozesse erklären lassen, vom Weg eines Produkts in den Shop über die gewünschte User Journey eines sogenannten Kündigers bis hin zur Frage, wie aus einer Wiese der Standort eines Windkraftwerks wird. Allein durch die Gesprächs- und Aufnahmebereitschaft wuchs das Vertrauen in uns nach und nach.
Abgesehen von diesen Gesprächen sorgten die neuen Teams, die ab Sommer 2017 loslegten, für Vertrauen. Dann mussten selbst Kritiker eingestehen: Jetzt sind auch Leute, die wichtige Kompetenzen mitbringen und die innogy fehlten, mit im Boot – etwa Performance Marketing, Analytics und Information Design.
Zielbar: innogy.c3 ist nur für digitale Kommunikation zuständig. Macht das Sinn? Habt ihr nichts zu tun mit Offline-Produkten wie Magazinen oder Messeunterlagen?
Tom Levine: Zwar stimmt die digitale 360-Grad-Sicht für die Agentur innogy.c3, nicht aber für die beiden Abteilungen, von denen ich gesprochen habe. Im Digital Communications Hub sitzen schon aus traditionellen Gründen auch die großartigen Kolleginnen und Kollegen, die Print-Produkte betreuen oder z. B. Events organisieren. Dort wird außerdem ein kurzer Draht zu weiteren Abteilungen gehalten wie zu denen, die Messe-Stände oder Events organisieren.
Zielbar: Ist innogy.c3 also vor allem ein Auftragsabwickler?
Tom Levine: Einerseits ja. Bei innogy sollte jeder, der etwas auf der Website oder in Social Media veröffentlichen will, zu unseren Kollegen beim Digital Comms Hub kommen, bevor er eine andere Agentur beauftragen kann. Und wenn es geht, wird das Vorhaben dann von uns gemeinsam umgesetzt.
Gleichzeitig agieren wir aber in vielen Bereichen auch wie eine Leadagentur, die im Interesse innogys Vorhaben prüft, vielleicht neu aufsetzt, nachschärft. Auf diese Weise will innogy die Steuerung seiner vielen Agenturen, die es auch weiterhin geben wird, in den Griff bekommen.
Zielbar: In den Medien stand, dass sich innogy durch die Hybridagentur Einsparungen erhofft. Aktuell sollen noch um die 30 Agenturen für das Unternehmen arbeiten.
Tom Levine: Diese Zahl will ich nicht kommentieren. Darum geht es auch nicht. Was wir besser, effizienter und sparsamer machen wollen, ist die Steuerung von Agenturen. Das ist ja ein Problem, das beide Seiten betrifft, die Agenturen genauso wie das Unternehmen. Wir brauchen bessere Briefings und Guidelines, wir brauchen mehr Verständnis für das Unternehmen, aber auch für die Gesetzmäßigkeiten digitaler Medien. Da ist es hilfreich, dass es bei innogy in Zukunft ein Kompetenzzentrum für digitale Kommunikation gibt, das assistieren kann.
Eine bessere, engere, schnellere Agentursteuerung trägt zudem zur Ertragsoptimierung bei. In vielen Unternehmen ist es doch so: Hier schaltet jemand eine Anzeige, dort wundern sich andere über den Sprung an Page Impressions auf der Website, denen aber vielleicht gar keine Conversion folgt. Weil entweder niemand miteinander spricht oder – genauso schlimm – alle sich blind koordinieren, werden Ressourcen und Budgets verschwendet, der erhoffte Erfolg verdampft. Bei innogy etablieren wir mit unserer Konstruktion klare Mechanismen der Zusammenarbeit. Bald werden sich alle Beteiligten über Sprinklr und Jira so austauschen, das Content-Marketing effizient mehr Ertrag beisteuern kann.
Zielbar: Wie sieht denn die Content-Strategie aus, die ihr für innogy aufgebaut habt?
Tom Levine: Für den Aufbau konnten wir – neben unseren eigenen Analysenergebnissen – auf die Vorarbeit anderer zugreifen. Die Marke etwa ist von Jung von Matt/Brand Identity entwickelt worden, da haben die Kolleginnen und Kollegen großartige Arbeit geleistet. Wir haben daraus Regeln für Tonalität, Storytelling und Kanaleinsatz entwickelt.
Wir haben Zielgruppen und Personas entwickelt, Touchpoint-Maps und Audience Interest Maps, also einen Werkzeugkasten, aus dem sich die verschiedensten Content-Produzenten bei innogy bedienen können.
Und wir haben eine Abteilung namens Agenda Setting gegründet: Dort arbeiten aktuell zwei Content-Strategen und eine Menge weiterer erfahrener innogy-Kollegen, die nicht nur die Aufgabe haben, die Content-Strategie insgesamt weiterzuentwickeln, sondern gewissermaßen als Vertreter der Content-Strategie im Unternehmen herumzurennen. Die sammeln Themen und Ideen und Initiativen ein, vertreten gleichzeitig aber auch die Interessen der relevanten Personas in ihrem jeweiligen Fachbereich. Der E-Mobility-Mensch muss also genau wissen, wer sich für E-Mobility interessiert, wie die ticken, was die suchen.
Man sollte meinen, dass diejenigen, die in der Produktentwicklung arbeiten, das auch alles wissen. Das ist aber nicht so. Die kennen ihr Produkt und sicher auch alle produktbezogenen Wünsche und Vorstellungen, die Kunden so haben. Aber welche inhaltlichen, kommunikativen Bedürfnisse die Kunden haben, das ist oft viel zu wenig präsent. Das ändert sich durch unsere Agenda-Setter.
Zielbar: Mit wie vielen Personas arbeitet ihr?
Tom Levine: Mit mehr als 25. Dass es so viele sind, liegt daran, dass innogy als Konzern sehr, sehr breit aufgestellt ist. innogy redet nicht nur mit Stromkunden, sondern mit Kommunalpolitikern, Bewerbern und Bewerberinnen, Ingenieuren, den Stadtwerken, der Presse oder mit den unterschiedlichsten Konsumentengruppen. In solchen Fällen brauche ich einfach viele Personas – immer mit dem Bewusstsein, dass niemand einen Content-Plan für alle Personas schreiben kann, sondern immer nur für einzelne oder kleinere Gruppen davon.
Für viele Unternehmen ist die Arbeit mit Personas neu. innogy hat hier bereits große Schritte gemacht. Es motiviert ungemein, wenn etwa aus dem Retail zu hören ist: Wir gewinnen mit euch völlig neue Ansichten, das macht ja richtig Spaß!
Zielbar: Gibt es erste Erfahrungen oder Erfolge, die Dich überrascht haben?
Tom Levine: Den schönsten und lehrreichsten Erfolg hatten wir bisher mit Content für eine sehr, sehr kleine Zielgruppe: Landwirte in Schleswig-Holstein. Mit denen will innogy ins Gespräch kommen, wenn sich der Landwirt überlegt, eine Wiese für Windkraftwerke zur Verfügung stellen zu wollen. Üblicherweise würde dazu in landwirtschaftlichen Fachmagazinen annonciert werden – in der Annahme, dass Landwirte andere Kanäle wie Facebook eh nicht nutzen. Wir haben Facebook-Ads trotzdem versucht und dazu passenden Content, der wiederum zu einem Tool für die Anmeldung verlinkte.
Diese Aktion hat natürlich nur eine winzige Gruppe erreicht, aber die sorgte für eine atemberaubende Konversion. Wir haben unser Ziel über alle Erwartungen hinaus erreicht, und das mit einem sehr geringem Mediabudget. Das ist etwas, was wir jetzt in anderen Bereichen zu kopieren versuchen.
Zielbar: Wer bestimmt denn, welche Themen ihr bearbeitet?
Tom Levine: Die Vorschläge können aus jeder Richtung kommen, ob intern oder extern oder aus der Zeitung. Ein solcher Impuls kommt zum ersten Check in ein kleines Entscheidergremium, bestehend aus den Führungskräften unserer Partnerabteilungen. Unser Agenturgeschäftsführer Marcus Bilgeri ist quasi Dauergast. Wenn das Thema dort akzeptiert wird, wird jemand mit dem Briefing beauftragt. Er oder sie recherchiert dann auf Grundlage der Content-Strategie, analysiert zum Beispiel die relevanten Keywords oder die Content-Angebote der Konkurrenz. Und er überlegt sich: Was genau sollen wir entwickeln – ein Tool? Einen Film oder ein Lesestück?
Das entstandene Briefing geht dann zurück ans Entscheidergremium. Wenn es grünes Licht gibt, geht es sofort los: Dann kommen umgehend die Leute zusammen, deren Kompetenzen gebraucht werden, meinetwegen Performance Marketeers und UX‘ler. Und natürlich Leute, die hochwertigen Inhalt produzieren und tolle Geschichten erzählen können, also Journalisten, Fotografen, Videoprofis.
Wir üben noch, aber bisher funktioniert die scrumähnliche Zusammenarbeit dieser Projektteams schon ganz gut. Jeder steuert von Anfang an seine Ideen bei, vom ersten Prototyp bis zur Fertigungsreife. Das Ziel ist klar: Keiner wird allein eine seitenlange Reportage basteln und erst dann überlegen, wie er das Ding in die Welt bekommt. Und niemand wird auf die Idee kommen, dass es okay ist, den Social-Media-Kollegen zwei Tage vor Veröffentlichung einen ersten Schulterblick zu gewähren.
Zielbar: Hast Du Tipps für Unternehmen, die ebenfalls mit dem Gedanken liebäugeln, eine Art Hausagentur für Kommunikations- und Content-Aufgaben aufzubauen?
Tom Levine: Klar. Erstens anrufen bei mir … Nein, ernsthaft: Es ist wirklich wichtig, dass man die wichtigsten Stakeholder bis hinauf in die Spitze von Anfang an mitnimmt und ihnen klarmacht: Hier geht es nicht darum, die Archivabteilung zum 17. Mal von Abteilung A in Abteilung B zu verschieben. Hier geht es darum, die gesamte Kommunikation fit zu machen für das digitale Zeitalter. Und die gesamte Kommunikation meint extern und intern, Marketing, Sales, Service, Investor Relations, Employer Branding.
Natürlich sind die Strukturen überall anders, und nicht jeder muss gleich ein Joint Venture bauen. Aber wir können immer die Frage stellen: Wo funktioniert unsere Kommunikation schon gut genug für die Anforderungen der Digitalisierung – und wo tragen wir sinngemäß noch Aktendeckel rum?
Was ich nicht erwartet habe: Wie viel Zeit und Energie es kostet, ein Unternehmen mitzunehmen – selbst eines wie innogy, in dem die Agilität ja schon in der neuen Konzernkultur angelegt ist. Man braucht viel Rückenwind und Leute mit starken Schultern, die einen unterstützen, um so ein Projekt zu stemmen.
Zielbar: Noch eine Frage, Tom: Du hast ja früher eher Bücher über die britischen Royals geschrieben. Gibt es etwas, was Du davon mitgenommen hast?
Tom Levine: Lustig, dass Du das ansprichst. Ich habe da gerade neulich wieder drüber nachgedacht. Monarchie ist ja eine ziemlich frühe Form von Content-Marketing. Walter Bagehot, einer der großen britischen Journalisten des 19. Jahrhunderts, hat in seinem berühmten Werk „The English Constitution“ begründet, warum es eine Königsfamilie gibt: Das, was in dieser Familie passiere, sei für den größten Teil des Publikums verständlicher und interessanter als das, was im politischen Betrieb ablaufe. Man kann da jetzt gern inhaltlich drüber diskutieren – aber ich finde es schon faszinierend, wie damals „Marken“ – also Nationen – sich über Inhalte definiert und popularisiert haben, die für das Publikum interessant und zugänglich waren. Kann man ja mal drüber nachdenken, wie und ob das heute anders ist, in Zeiten von Trump, AfD, Erdogan und anderen Märchenerzählern.
Zielbar: Vielen Dank für die spannenden Insights, Tom Levine!
Artikelbild: Martin Mummel/GRVTY
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