Wie Piraten uns halfen, die Customer Journey unserer Zielgruppe zu verstehen
Der Mann am Steuer gibt Gas, der Außenbordmotor des kleinen Fischerbootes heult laut auf. Das Boot neigt sich gefährlich hoch in den Himmel, als die Wellen des Frachters auf den Bug treffen. Auf dem Boden liegt eine Leiter griffbereit, um an die hohe Außenwand des Frachters gehängt zu werden.
Die Insassen an Bord des Bootes kauen angestrengt Kath, eine bewusstseinserweiternde Droge, die in Somalia sehr beliebt ist. Während einer der Somali auf Englisch dem Frachter per Funk befiehlt anzuhalten, schießt sein Kumpan mit einer Kalaschnikow eine Warnsalve auf das Schiff. Die Männer an Bord sind Piraten, und sie stehen kurz davor, ein Handelsschiff vor der Küste Somalias zu entern.
Die Übergriffe von Piraten auf Schiffe vor Somalia begannen ungefähr ab dem Jahr 2002. Nach den ersten Zahlungen von Lösegeldern von Reedereien, die ihre Schiffe und Besatzungen freikauften, wurde die Piraterie für viele Menschen dieses gefallenen Staates zu einem Hoffnungsschimmer auf ein besseres Leben.
Dementsprechend nahmen die Übergriffe zu und erreichten zwischen 2008 und Ende 2012 ihren Höhepunkt. Wer sich ein Bild von diesen Übergriffen machen möchte, sollte sich den Film „Captain Phillips“ ansehen, der auf einer wahren Begebenheit beruht.
Quelle: Sony Picture Entertainment
Und was hat das nun mit der Customer Journey zu tun …?
Als Reaktion darauf wurden von verschiedenen Staaten und Organisationen Außenmissionen zum Schutz der Handelswege unternommen. Eine davon war eine multinationale Mission der EU, die European Union Naval Force – Somalia, kurz „EU NAVFOR – Operation ATALANTA“. Das Hauptquartier lag in der Nähe von London. Von dort aus wurden die Einsätze koordiniert und zentrale Aufgaben organisiert, darunter auch die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Wie sich später zeigen wird, ergibt sich an eben diesem Punkt die Verbindung zwischen den somalischen Piraten und der Customer Journey der Zielgruppe.
Von April 2012 bis Februar 2013 war ich als ehemaliger Bundeswehrsoldat Teil dieser Mission und in Großbritannien stationiert. Als „Content-Manager“ war ich im Media-Team dafür zuständig, Inhalte auf der Website der EU NAVFOR einzupflegen und zu verwalten sowie aus den unterschiedlichen Abteilungen Daten zu recherchieren, beispielsweise für Anfragen von Journalisten, die unsere Hauptzielgruppe waren. Gerade der letzte Punkt war ein wichtiger, aber auch sehr zeitintensiver Prozess.
Herausforderung: Informationen gezielt verfügbar machen
In der Regel nahmen Journalisten über unsere Website Kontakt zu uns auf. Je nachdem, worin der Schwerpunkt der Recherche bestand, wurden Informationen über ein bestimmtes Thema und einen bestimmten Zeitraum erfragt, beispielsweise wie viele Attacken von Piraten im Zeitraum X stattfanden.
Diese Anfrage lässt sich noch relativ leicht beantworten. Aber die Mehrzahl der Anfragen war deutlich komplexer, und die genaue Eingrenzung der benötigten Informationen war zu Beginn nicht immer klar. Deshalb war es oft notwendig, im Vorfeld die Anfrage via E-Mail oder (eher selten) über Telefon einzugrenzen. Das hatte folgende Nachteile:
- Da es sich bei den angegriffenen Schiffen um Frachter aus unterschiedlichen Nationen handelte, kamen die Journalistenanfragen auch aus unterschiedlichen Zeitzonen. Das konnte – trotz Bereitschaftsdienst des Presseoffiziers – den Prozess zusätzlich verzögern.
- Zudem kam es manchmal zu Kommunikationsproblemen, die aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse entstanden. Anfragen aus asiatischen und afrikanischen Ländern mussten teilweise übersetzt oder durch Rückfragen validiert werden.
- Die Anfragen betrafen oft auch andere Abteilungen und Organisationen innerhalb und außerhalb der EU NAVFOR. Hatten wir also die Anfrage empfangen, mussten wir die Informationen teilweise selbst recherchieren, was zu einer weiteren Verzögerung führen konnte.
Doch nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern. Gerade Journalisten sind darauf angewiesen, schnell an die richtigen Informationen zu kommen. Zudem müssen diese Informationen auch überprüft sein.
Deshalb war es immer unsere Anstrengung, die jeweils benötigten Informationen schnell liefern zu können. Wir wussten, wie die Customer Journey (bzw. User Journey) unserer Zielgruppe, in diesem Falle also der Journalisten, aussah. Wir wussten aber auch, dass wir mit den bisherigen Prozessen und Ressourcen diese Customer Journey nicht immer optimal bedienen konnten.
Land in Sicht: Der Relaunch von EU NAVFOR
Daher traf es sich gut, dass die Website von EU NAVFOR für den Januar 2013 einem Relaunch entgegensteuerte. Der Vertrag mit der Agentur, welche die Website betreute, lief zu diesem Zeitpunkt aus, und wir waren auf der Suche nach einer neuen Agentur.
Aufgrund meiner bisherigen Erfahrungen wurde ich zum Projekt-Manager für den Relaunch ernannt, der stellvertretende Pressesprecher zum Projektleiter. Zusammen überlegten wir, wie wir unsere Arbeitsprozesse mithilfe der zukünftigen Website optimieren könnten und welche Tools wir unseren Stakeholdern zur Verfügung stellen müssten, um ihnen die Arbeit zu erleichtern.
Wir rekonstruierten aus den bisherigen Anfragen die User Journey unserer primären Zielgruppe und stellten fest, dass ein großer Teil dieser Anfragen quantitative Daten über einen Zeitraum x betrafen. Diese Daten waren auf diverse Abteilungen innerhalb der EU NAVFOR verteilt. Sie waren also vorhanden, aber dezentral gespeichert und nicht von außen abrufbar.
Da diese Daten nicht klassifiziert waren, hatten wir die Idee, den Journalisten diese Daten über eine benutzerfreundliche Oberfläche zur Verfügung zu stellen. Zusätzlich sollte das Abrufen der Daten so individuell und autark wie möglich geschehen.
Unsere Content-Vision: Die Grundlage für die Customer Journey
Wir wollten, dass Menschen den Content, den sie für ihren Job brauchten, jederzeit und ohne unsere Hilfe interaktiv abrufen können, und zwar jeweils in dem Format, das sie für ihre Zwecke benötigen.
Das war unsere Content-Vision. Wir wussten, wo die Reise hingehen sollte. Die Umsetzung war nun eine andere Herausforderung. Zuerst war es wichtig, alle notwendigen Informationen zentral abzulegen bzw. in das geplante Tool einpflegen zu können.
Dazu musste die Informationsstruktur des Archivs überarbeitet werden, was aber nicht die Aufgabe des Media-Teams war, sondern einer Informationsarchitektin übertragen wurde. Diese hat alle verfügbaren Informationen in eine nachvollziehbare Struktur überführt, was die spätere Arbeit an dem Tool sehr erleichterte. Der Prozess der Immigration der Daten war langwierig, da bestehende Daten neu bezeichnet und neue Daten diesem Format angepasst werden mussten. Dies galt es bei der Planung der Website zu beachten.
Danach mussten wir das Tool entwickeln. Wir haben uns nach dem Vergabeverfahren für EU-Projekte für eine englische Design-Agentur entschieden, welche die Website mithilfe des Content-Management-Systems WordPress umsetzte. Dabei war die Programmierung des Tools der umfassendste Teil des Workloads, den wir – ohne ein spezielles Verfahren anzuwenden – sehr agil mithilfe der Agentur umsetzten.
Anfangs wurden die gewünschten Funktionen entwickelt. In der Projektmanagement-Methode Scrum würde man dazu „Epics“ sagen, also die Beschreibung einer Funktionalität aus der Vogelperspektive, ohne näher auf die Details einzugehen. Daraus wurden dann die „User-Stories“ abgeleitet, also detailliertere Beschreibungen einer Funktion, um ein Bedürfniss des Users auf seiner Customer Journey mithilfe der Website befriedigen zu können.
Das Resultat: Eine aktiv gesteuerte Customer Journey
Was daran neu war, ist, dass wir diese User/Customer Journey (oder auch Consumer Journey) im Vorfeld aktiv planten und neu zusammensetzten. Wir hatten uns zwar an den bisherigen Anfragen orientiert, aber nun entwickelten wir gänzlich neue Touchpoints der User Journey (das Tool), welche die Stakeholder noch gar nicht kannten und für die es auch keine vergleichbaren Beispiele (auf unserer Website) gab. Das Video „Shaping the Digital Customer Journey“ vom Harvard Business Review fasst diesen Prozess gut zusammen.
Für die User Journey der Journalisten konstruierten wir deshalb folgendes Szenario: Der Journalist recherchiert und hatte bereits Kontakt mit dem Thema Piraterie. Er weiß, dass EU NAVFOR an der Bekämpfung der Piraten beteiligt ist und über Informationen aus erster Hand verfügt. Nun befindet er sich mit einem gewissen Vorwissen auf der Seite und sucht weitere, valide Daten als Faktencheck.
Ist er erstmalig mit Recherchen zu diesem Thema betraut oder möchte er mehr Hintergrundmaterial zum Auftrag und zur Zusammensetzung der Mission haben, so wird er auf eine detailliertere „Mission“ verwiesen. Hier finden Journalisten ausführliches Material über Mandat und Auftrag der Mission, über die derzeitigen Befehlshaber sowie über die sich derzeit im Einsatz befindlichen Einheiten.
In der Regel arbeiten Journalisten jedoch über einen längeren Zeitraum an einem Thema. Darum entschieden wir, neue Informationen in Form eines Blogs und über soziale Netzwerke zur Verfügung zu stellen. Über den klassischen RSS-Feed, den Newsletter, aber auch über Twitter und Facebook wurden Informationen an die Stakeholder verteilt.
Bei der Auswahl der Kanäle haben wir die Story und die verschiedenen Anspruchsgruppen in den Fokus gestellt, nicht die Kanäle selbst. Der Newsletter und Twitter richten sich beispielsweise an die Gruppe der Journalisten, Organisationen und Verbände. Facebook hingegen eher an die Angehörigen der Soldaten im Einsatz sowie an die Menschen in Somalia bzw. in der somalischen Diaspora.
Das mächtigste Tool damals war aber die Seite Key Facts and Figures. Wir haben mit dieser Seite ein interaktives Werkzeug für Journalisten entwickelt, mit dessen Hilfe diese in der Lage sind, komplett autark quantitative Daten über den gesamten Zeitraum der Mission abzurufen und sich in dem Format ausgeben zu lassen, welches sie für die weitere Bearbeitung benötigen.
Dazu müssen Journalisten nur auf die Seite gehen, den Zeitraum angeben und per Klick die benötigten Datensätze auswählen. Die Daten werden visuell als Diagramm dargestellt und können in Excel oder PDF exportiert werden.
Fazit – und was Unternehmen daraus lernen können
Seit 2013 tragen die verschiedenen nationalen und internationalen Einsätze sowie die Sicherheitsvorkehrungen der Reedereien Früchte: Es wurde kein Schiff mehr von Piraten gekapert. Auch die Berichterstattung zu diesem Thema ist merklich abgeflaut. Aber zum Zeitpunkt meines Aufenthalts konnten wir einige Erkenntnisse aus dieser Analyse und Anpassung der Customer Journey lernen:
- Durch die Analyse der bestehenden Anfragen waren wir in der Lage, Muster zu erkennen. Diese Muster haben wir zu strategischen Touchpoints weiterentwickelt. Wesentliche Elemente der Customer Journey haben wir dann neu entwickelt und automatisiert.
- Ein für uns positives Resultat war auch, dass die Berichterstattung über die Mission stieg und die Media Clippings positiver ausfielen, während die direkten Anfragen der Journalisten an uns für diese Art Informationen abnahmen. Dank unseres Tools konnten sich viele jetzt „selbst bedienen“.
- Dadurch waren wir in der Lage, unsere vorhandenen Ressourcen für andere Dinge einzusetzen, beispielsweise für eine schnellere Aufbereitung von Informationen aus dem Einsatzland oder die Bearbeitung von detaillierteren Anfragen, die nicht mithilfe des Tools beantwortet werden konnten.
- Gleichzeitig waren die Journalisten viel konkreter in ihren Anfragen, da diese durch die autarke Recherche-Arbeit viel informierter waren als vorher. Und sie waren zufriedener, weil wir ihre Bedürfnisse weitaus besser befriedigen konnten.
Jetzt fragt sich der geneigte Leser vielleicht, was Militär und Piraten mit seinem Unternehmen und seiner Customer Journey zu tun haben. Nicht viel. Aber das Vorgehen ist adaptierbar. Heißt: Wer versteht, wie sich Nutzer auf seiner Website bewegen, der kann dort die User Experience des Besuchers verbessern, indem er oft angelaufene Touchpoints weiter ausbaut und kaum genutzte Touchpoints optimiert.
Und wer darüber hinaus weiß, warum sich der Nutzer so und nicht anders auf seiner Website bewegt und welche Ziele er verfolgt, der kann sogar komplett neue Touchpoints entwickeln und den Besucherfluss dahingegen beeinflussen. Dadurch lockt er neue Kunden an, bindet bestehende Kunden enger an sich und kann – im Optimalfall – sein Angebot optimieren.
Spannend und guter Anstupser, sich mit unserer Homepage auseinanderzusetzen.